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Dieses unbedingte Verlangen nach Nähe, die Ihr Junghund mit dem ersten Schritt über die Schwelle in ein neues Dasein an den Tag legt, ist nicht nur seiner anfänglichen Unsicherheit angesichts all des Neuen geschuldet, sondern ist der Ausdruck dessen, dass Ihr Hund Sie zwangsläufig als die neue Mutter adoptiert hat. Sein Leithund werden Sie erst, wenn der Abnabelungsprozess abgeschlossen sein wird und Sie dieser Rolle auch gerecht werden. An dieser Stelle kehre ich zurück zu meinem Eingangsstatement, in dem ich postulierte: „Wer seinen Hund bestimmt nicht auf die Couch lassen will oder wer ihn garantiert von der Bettkante stoßen wird, der sollte sich besser keinen Hund ins Haus holen“. Vergegenwärtigen Sie sich, dass Sie soeben dieses hilfsbedürftige Etwas von Hund aus der Vertrautheit seines Rudels gerissen und dem Schutz durch die Mutter entzogen haben. Sie sind der einzige Bekannte in dieser neuen Umgebung – er hat nur Ihren Geruch und Ihre Stimme, die ihm Nähe und Geborgenheit vermitteln, und Ihre Hände, die ihn trösten. Nähe ist für einen Hund nichts Abstraktes, sondern was ganz Konkretes und Elementares. Wie das aussieht, weiß jeder, der auch nur einmal dabei war, wenn sich ein Wurf junger Hunde zum Schlafen niederlegte. Sie werden niemals beobachten können, dass ein Junghund abseits von den anderen allein liegt. Jeder sucht sich mindestens einen Partner, der möglichst auch noch als Kopfkissen fungiert, an den er sich anschmiegen kann. Ein wunderschönes Bild von Nähe, Zugehörigkeit und Harmonie. Irgendwann an diesem ersten Tag gehen auch Sie zu Bett und Ihr kleiner Hund folgt Ihnen ins Schlafzimmer. Spätestens jetzt treffen Sie eine für die Zukunft prägende Entscheidung: Hund darf mit zu Ihnen ins Schlafzimmer oder er muss mutterseelenallein vor der Tür bleiben. Rufen Sie sich das oben beschriebene Bild ins Gedächtnis und all das, was ich zum Thema Nähe bisher dargelegt habe, und handeln Sie in diesem Moment so, wie ich bisher bei all meinen Hunden gehandelt habe: Er bekommt seinen Platz im Bett. Konfrontieren Sie Ihren Junghund bewusst mit ganz alltäglichen Situationen: Gehen Sie mit ihm Einkaufen, in Läden, in die er rein darf, ins Café, durch die Fußgängerzone, nehmen Sie ihn überall dorthin mit, wo auch Sie hingehen und es mit ihm möglich ist – aber ohne Leine! Termindruck sollten Sie bei solchen Exkursionen keinen haben, denn ihr Junghund wird an allen Ecken und herumliegenden Dingen verweilen und schnüffeln wollen, und das soll er auch. Gleichzeitig wird er lernen, dass er trotz all der interessanten Gerüche Sie im Auge behalten muss, will er Sie nicht verlieren, denn dies würde ihn in Panik versetzen. Einmal zumindest muss er diese Erfahrung gemacht haben. Sie sind für ihn, was der Reiseleiter mit dem Fähnchen oder Schirm für die Touristengruppe ist: der Orientierungspunkt und die Person, bei der er notfalls Schutz finden kann. Und natürlich haben Sie ihren kleinen Erfahrungssammler auf Entdeckungstour ständig im Blick, greifen aber nur dann ein, wenn eine Situation eintritt, die für den Hund gefährlich ist oder blöd ausgehen könnte. Während eines solchen Ausflugs lernt ihr kleiner Schützling mehr Lebenswichtiges als die Hunde, die zur gleichen Zeit ihre Trainingsstunden mit Sitz!- und Platz!-Kommandos verbringen. Sitz!, Platz!, Ablegen!, Fuß!, sind Befehle, die meine Hunde nicht kennen. Moonah würde Sie nur fragend ansehen. Und dennoch setzt sie sich neben mich hin, wenn sie spürt, dass ich in einer Situation unsicher bin (beispielsweise an einer unübersichtlichen Kreuzung). Und sie hält instinktiv Kontakt zu mir, wenn sie in Situationen kommt, in der sie selbst Unsicherheit verspürt. Soeben war ich in der Bank. Vor mir ein anderer Kunde vor dem Geldautomaten. Ich halte also den Diskretionsabstand ein und muss warten. Moonah wartet unaufgefordert sitzend neben mir, merkt, dass es eine Weile dauern wird, und legt sich darum ruhig neben mir ab. Von Hundeschulen indoktrinierte Hundehalter hätten, sofern sie den Hund nicht ohnehin draußen vor der Bank angekettet hätten, ihrem Hund sofort erst den Befehl Sitz! erteilt und dann, weil man ja warten muss, die Anweisung Platz!. Wie mein Hund beweist, wäre das eine unnötige Bevormundung. Viele Hundebesitzer machen meines Erachtens den Fehler, mit ihren Hunden vorwiegend im Befehlston zu kommunizieren, und das fast immer in einer Lautstärke von etlichen Dezibel über dem Normalton, als wären der Park oder die Wiesen und Felder ein einziger Kasernenhof. Wer keine Feldwebelstimme hat, der wird dann in Gefahrensituationen seine Lautstärke nicht mehr wirklich steigern können. Jede Form der Kommunikation, die sich an der militärischen Semantik orientiert, modulieren wir unweigerlich schärfer und lauter, was an sich schon eine Unbedingtheit impliziert, die wir vom Empfänger erwarten. Selbst dann, wenn wir es gar nicht so meinen und beispielsweise nur möchten, dass sich unser Hund nicht so weit von uns entfernt. Um diese unweigerliche Schärfe und Befehlslautstärke zu vermeiden, benutze ich keinen der üblichen Befehle, sondern rufe meinen Hund auf eine eher lockende Art, und zwar in sehr abgestuften Grund-Varianten. VARIANTE 1, wenn ich nur möchte, dass sie mir hinterher folgt: „Hei, jei, jei...!“ VARIANTE 2: „Moonah!“ (freundlich bis leicht be-fehlend), wenn ich will, dass sie von etwas ablässt und in meine Nähe kommt. VARIANTE 3: „Habe ich noch einen Hund?!“, wenn ich den Hund nicht mehr sehe und möchte, dass er sich zeigt. VARIANTE 4: „Moonah, hier!“ (von lockend bis leicht be-fehlend), wenn ich möchte, dass sie direkt zu mir kommt. VARIANTE 5: „Zu mir!“ als lauter und unmissverständ- licher Befehl, und wenn es in kritischen Situationen erforderlich ist: auch gebrüllt. Grundsätzlich vermeide ich den üblichen Befehlston, denn der kommt nur in Situationen zum Einsatz, in denen der Hund unbedingt und sogleich reagieren soll, also wenn eine ernsthafte Gefahr oder Situation vorliegt, die ein Gehorchen unabdingbar macht. Meine Hunde sind dann derart überrascht über meine Lautstärke und Schärfe im Ton, dass sie sich schon deshalb auf mich konzentrieren und meinem Willen folgen. Ein weiterer Grundsatz, den ich Ihnen nur empfehlen kann, ist: KEINE LECKERLIS! Durch den Einzug des Hundes in die Enge einer Wohnung, eingebunden in die Intimität familiäreren Lebens, wurden aus dem eher losen und auf Koexistenz basierendem Zusammenleben auf dem Hof ein eng in die Familie eingebundenes, uneigenständiges Dasein. Eine für Mensch wie für Hund neue Situation und der Beginn einer fatalen Entwicklung, was das Elend, in dem der Hund von heute sich befindet, historisch zu erklären vermag. Wie auch immer es dazu kam, dass Hund vom Hof in die Wohnung zog: Seine Autonomie musste er mit diesem Schritt über die Schwelle für immer an der Garderobe abgeben. Und in den Wohnungen der Bourgeois herrschte eine Regiment der Disziplin und Unterordnung, das nicht nur der Hund zu spüren bekam, sondern genauso die Ehefrau, die Kinder und die Bediensteten. Der Hund war in dieser Hierarchiekette ganz unten und entsprechend ging es ihm. Machen wir einen Zeitsprung in die Jahre nach 1968, in jene Dekade der Debatten über die Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen, durch die auch solche Bewegungen wie die der antiautoritären Erziehung, die Hippies, Sekten wie die der Sannyas-Bewegung um den Guru Bhagwan oder die Strömungen der humanistischen Psychologie und die der marxistischen Gruppen entstanden. Theorien über die Befreiung durch Revolution, durch Selbstverwirklichung und Selbsterkenntnis oder über die spirituelle Sinnsuche haben sehr viele Menschen in der westlichen Welt bewegt und blieben nicht ohne Auswirkungen auf das allgemeine gesellschaftliche Bewusstsein. Die Friedens- und Umweltbewegung subsumierte all die damals entstandenen politischen, psychologistischen und spirituellen Bewegungen, sie war der kleinste gemeinsame Nenner all solcher Denk- und Ideologieansätze und beeinflusst heute den moralischen Konsens eines nicht unerheblichen Teils der Menschen in den reichen Industriestaaten. Was das alles mit dem Hund zu tun hat? Sehr viel! Denn im Zuge dieser Bewegungen avancierte der Hund zu einem Wesen, dem man geistig hochstehende Emotionen zubilligt und der deshalb ein Recht auf eine humane Tierhaltung hat. Doch anstatt ihm seine Autonomie, die er einst an der Garderobe abgegeben musste, so weit wie möglich wieder zurückzugeben, wurde er zum Opfer eines Psychologismus, der sich anschickt, ihm die letzten Reste seines Hund-Seins zu rauben.